„Grenzen abschaffen und laufen lassen“, unter diesem Titel fantasiert die europapolitische
Think-Tankerin Ulrike Guérot in der Taz von einer Welt ohne Grenzen.
Man weiß nicht, wie man mit ihrem Artikel umgehen soll – fast
wirkt er wie Satire, so als habe ein Rechter sein Bestes getan, um
eine weltfremde „No Border“-Träumerei zu karikieren. Aber er ist
tatsächlich ein perfektes Beispiel für den tragischen Unernst, den
gerade viele Progressive in der Flüchtlingsdebatte oft an den Tag
legen: „Utopien formulieren und denken-sein-lassen“, so könnte
man es beschreiben.
Der Nationalstaast sei
obsolet, das ist Guérots Ausgangspunkt. „Jeder Mensch muss [...]
in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu durchwandern und
sich dort niederlassen können, wo er will“, das findet sie, denn
das sei nicht nur praktisch, sondern auch gerecht. Ebenso wie viele
Radikallibertäre glaubt sie dabei, dass ein Zerfall des
Nationalstaates gesunderweise zur ethnischen Segregation führen
würde. Aber anstatt das zu beklagen, preist sie es als Weg zu einer
auf Toleranz und dem Respekt für „Otherness“ basierenden,
friedlichen Weltgemeinschaft und als Alternative zum unangenehmen
Integrationszwang. Es gehe doch ganz einfach: „Wir stressen uns
nicht mit Integration.“
Man hat das Gefühl einem
weltfremden, jeder Substanz beraubten Liberalismus gegenüberzustehen,
der bis zur letzten, absurden Konsequenz getrieben wurde: Hält sich
der Staat zurück, so die Prämisse, und lässt alle einfach ihr eigenes Ding machen,
ergibt sich von allein die wuselnde, bunte, harmonische Weltrepublik
- „ein kreatives Netz von Vielfalt.“ Das hat mit der wirklichen
Welt sehr wenig zu tun, viel aber mit der Lebenswelt eines
europäischen Großstadt-Yuppies, für den fremde Kulturen und fremde
Menschen vor allem eines bedeuten: mehr Abwechslung bei den
Restaurants. So stellt sich Guérot tatsächlich die Verschmelzung
der Kulturen im Europa ohne Grenzen vor, wie eine Art
Gentrifizierungskampagne, die Eroberung Neuköllns durch die Hipster:
„Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden neugierig. Die
Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine oder
andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen
und zu dichten. Es entstehen hippe Cafés. Studenten, die billigen
Wohnraum suchen, werden ihre WGs in Neu-Damaskus einrichten.“ Und
dann: Völkerfreundschaft.
Das ist alles so trostlos
provinziell, so völlig ignorant gegenüber den Lebenswirklichkeiten
auch der Flüchtlinge, für die Guérot ja eine Lanze zu brechen
meint, dass man es kaum glauben kann. Geradezu sprachlos macht etwa
ihre Verherrlichung von Flüchtlingscamps als herzerwärmende
Erfolgsstory:
„Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden, wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der Natur des Menschen zu liegen. Im Libanon wurden in den Millionencamps schon nach wenigen Wochen die sorgfältig rechteckig aufgestellten UNHCR-Container umgestellt und zurechtgerückt. Es entstanden große Verkehrsachsen und kleine Nebenstraßen – die Hauptstraße in einem libanesischen Flüchtlingscamp zum Beispiel wurde Champs Elysée getauft. Aus dem Nichts entstand Handel, entstanden kleine Boutiquen, wurde Schrottmaterial von gewieften Tüftlern und Bastlern zu Mopeds umgebaut; auf einmal gab es kleine Theater oder Tanzfeste. Es dauert, so sagen Experten, keine sechs Monate, dann wird aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt.“
Ja, und wenn man dann
noch sechs Monate wartet, dann ist es ein Ghetto. Und dann ein Slum.
Und schließlich, nach fünfzig
Jahren Freiheit von staatlicher Bevormundung... ist es immer
noch ein Slum. Aber sicher schön „bunt“ und mit schönen
„kleinen Boutiquen“ und so nett und kreativ wie die Urban
Gardening-Parzellen auf dem Tempelhofer Feld.
Das ist ein narzistischer
Diskurs der schönen Seelen. Eine Diskussion, die gar nicht an
politischen Lösungen interessiert ist, und dem im Grunde das eigene
Befinden wichtiger ist, als die Möglichkeit, Verantwortung zu
übernehmen oder Veränderungen zu bewirken. Es ist eine Kapitulation
vor der Wirklichkeit.
So etwas schreibt man
also beim European Democracy Lab. Und so etwas steht in Le
Monde Diplomatique und der Taz. Gleichzeitig treffen sich die Häupter
der EU-Staaten, ohne eine konstruktive solidarische Lösung zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zu finden, und es regt sich kein nennenswerter Protest. Es wunder nicht einmal.
Gibt es zwischen diesen zwei Dingen vielleicht
einen Zusammenhang?
European Democracy Lab ist: „a young,
cross-generational, inter-disciplinary think tank working on new
ideas for the future of European politics, its economy, and a our
shared society“ [sic]
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen