Communism

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Samstag, 20. Februar 2016

Lauter schöne Seelen

Grenzen abschaffen und laufen lassen“, unter diesem Titel fantasiert die europapolitische Think-Tankerin Ulrike Guérot in der Taz von einer Welt ohne Grenzen. Man weiß nicht, wie man mit ihrem Artikel umgehen soll – fast wirkt er wie Satire, so als habe ein Rechter sein Bestes getan, um eine weltfremde „No Border“-Träumerei zu karikieren. Aber er ist tatsächlich ein perfektes Beispiel für den tragischen Unernst, den gerade viele Progressive in der Flüchtlingsdebatte oft an den Tag legen: „Utopien formulieren und denken-sein-lassen“, so könnte man es beschreiben.

Der Nationalstaast sei obsolet, das ist Guérots Ausgangspunkt. „Jeder Mensch muss [...] in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will“, das findet sie, denn das sei nicht nur praktisch, sondern auch gerecht. Ebenso wie viele Radikallibertäre glaubt sie dabei, dass ein Zerfall des Nationalstaates gesunderweise zur ethnischen Segregation führen würde. Aber anstatt das zu beklagen, preist sie es als Weg zu einer auf Toleranz und dem Respekt für „Otherness“ basierenden, friedlichen Weltgemeinschaft und als Alternative zum unangenehmen Integrationszwang. Es gehe doch ganz einfach: „Wir stressen uns nicht mit Integration.“

Man hat das Gefühl einem weltfremden, jeder Substanz beraubten Liberalismus gegenüberzustehen, der bis zur letzten, absurden Konsequenz getrieben wurde: Hält sich der Staat zurück, so die Prämisse, und lässt alle einfach ihr eigenes Ding machen, ergibt sich von allein die wuselnde, bunte, harmonische Weltrepublik - „ein kreatives Netz von Vielfalt.“ Das hat mit der wirklichen Welt sehr wenig zu tun, viel aber mit der Lebenswelt eines europäischen Großstadt-Yuppies, für den fremde Kulturen und fremde Menschen vor allem eines bedeuten: mehr Abwechslung bei den Restaurants. So stellt sich Guérot tatsächlich die Verschmelzung der Kulturen im Europa ohne Grenzen vor, wie eine Art Gentrifizierungskampagne, die Eroberung Neuköllns durch die Hipster: „Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden neugierig. Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und zu dichten. Es entstehen hippe Cafés. Studenten, die billigen Wohnraum suchen, werden ihre WGs in Neu-Damaskus einrichten.“ Und dann: Völkerfreundschaft. 

Das ist alles so trostlos provinziell, so völlig ignorant gegenüber den Lebenswirklichkeiten auch der Flüchtlinge, für die Guérot ja eine Lanze zu brechen meint, dass man es kaum glauben kann. Geradezu sprachlos macht etwa ihre Verherrlichung von Flüchtlingscamps als herzerwärmende Erfolgsstory: 
„Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden, wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der Natur des Menschen zu liegen. Im Libanon wurden in den Millionencamps schon nach wenigen Wochen die sorgfältig rechteckig aufgestellten UNHCR-Container umgestellt und zurechtgerückt. Es entstanden große Verkehrsachsen und kleine Nebenstraßen – die Hauptstraße in einem libanesischen Flüchtlingscamp zum Beispiel wurde Champs Elysée getauft. Aus dem Nichts entstand Handel, entstanden kleine Boutiquen, wurde Schrottmaterial von gewieften Tüftlern und Bastlern zu Mopeds umgebaut; auf einmal gab es kleine Theater oder Tanzfeste. Es dauert, so sagen Experten, keine sechs Monate, dann wird aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt.“
Ja, und wenn man dann noch sechs Monate wartet, dann ist es ein Ghetto. Und dann ein Slum. Und schließlich, nach fünfzig Jahren Freiheit von staatlicher Bevormundung... ist es immer noch ein Slum. Aber sicher schön „bunt“ und mit schönen „kleinen Boutiquen“ und so nett und kreativ wie die Urban Gardening-Parzellen auf dem Tempelhofer Feld.

Das ist ein narzistischer Diskurs der schönen Seelen. Eine Diskussion, die gar nicht an politischen Lösungen interessiert ist, und dem im Grunde das eigene Befinden wichtiger ist, als die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen oder Veränderungen zu bewirken. Es ist eine Kapitulation vor der Wirklichkeit.

So etwas schreibt man also beim European Democracy Lab. Und so etwas steht in Le Monde Diplomatique und der Taz. Gleichzeitig treffen sich die Häupter der EU-Staaten, ohne eine konstruktive solidarische Lösung zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zu finden, und es regt sich kein nennenswerter Protest. Es wunder nicht einmal.

Gibt es zwischen diesen zwei Dingen vielleicht einen Zusammenhang?

European Democracy Lab ist: „a young, cross-generational, inter-disciplinary think tank working on new ideas for the future of European politics, its economy, and a our shared society“ [sic]


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