Communism

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Dienstag, 19. Mai 2015

Sarrazins Weltanschauung (Erster Teil)

(Edit: Es wird vermutlich nie einen zweiten Teil geben. Ich habe das Interesse verloren!)

„It is fairly clear that he likes Jews“ - aus der Rezension des Economist

Als 1985 Günther Wallraffs Reportage aus dem Gastarbeitermillieu, „Ganz Unten“, erschien, bildeten sich Schlangen vor den Buchläden. Es war, heute unvorstellbar, einer der größten Bestseller in der deutschen Geschichte, allein in den ersten 6 Wochen 1,6 Millionen mal verkauft – und das im kleinen Westdeutschland. Wenn man also sich vor Augen führen will, wie der Zeitgeist sich seitdem gewandelt hat, dann muss man sich nur bitter eingestehen, dass das einzige Buch, dass seitdem eine solche Wirkung entfaltet haben dürfte, das einzige, das sowohl in verkauften Exemplaren als auch in politischer Brisanz da mithalten kann, von Sarrazin geschrieben wurde, dem Anti-Wallraff. Denn Deutschland schafft sich ab war ein Bestseller, es war überall, im Spiegel, in jeder Tankstelle zum Verkauf: Millionen hatten offenbar auf dieses Buch gewartet. 

Es ist deshalb ironisch, dass Sarrazin selbst sich als Opfer einer Art Zensur der etablierten 'Meinungskartelle' stilisieren konnte, und das nicht erst seit seinem neusten Buch über den „Tugendterror“, welcher Sarrazin zu Folge den öffentlichen Diskurs in seinen heuchlerischen, linksliberalen Klauen hält. Die unmittelbare Wirkung von Deutschland schafft sich ab erklärt sich zum großen Teil aus dieser Geste des Tabubruchs und des Aussprechens angeblich opportunistisch totgeschwiegener Realitäten – was Sarrazin zu sagen hat, ist gefährliche, subversive Wahrheit und bürgerlicher common sense in einem. Von Anfang an wurde Sarrazin von großen Medien aufgebaut, von seinem Verlag aus der Bertelsmann-Gruppe, von der Bild, vom Spiegel – und trotzdem wendete sich fast alles, was in Deutschland eine offizielle Position bekleidete, laut von ihm ab. Millionen kauften seine Bücher, aber öffentlich wollte kaum jemand aus gerade den Leistungseliten, an die er sich wendete, mit ihm gesehen werden. Wie passt das zusammen? Spricht aus ihm das Id eines verrohten (das Wort hört man immer wieder) Bürgertums, das zwar längst alle egalitären Prinzipien abgelegt hat, sich aber nur traut, seine reaktionären Gefühle in Form eines Medienspektakels zu zelebrieren, aus Furcht vor dem links-liberalen gesellschaftlichen Gewissen? Lesen die deutschen Leistungsträger heimlich Sarrazin, in unschuldige Umschläge gehüllt wie 50 Shades of Grey? Müssen wir Sarrazin am Ende sogar dankbar sein, dass er das obszöne Geheimnis des Neoliberalismus ausgesprochen hat – dass nämlich ein Abbau sozialer Standards im Namen des globalen Wettbewerbs letztlich ohne Sozialdarwinismus und authoritären Staat nicht zu haben ist? 

Um diese Fragen zu beantworten, bleibt einem kaum etwas übrig, als Sarrazins langweiliges Buch auch zu lesen – mit der Frage nämlich, was an diesem Buch so eine Wirkung entfalten konnte, eine Wirkung die sich vielleicht jetzt erst mit den rechten „Bürgerbewegungen“ echt entfaltet.

Also, wie ist das Buch so? Das erste, was überrascht, ist der einfache, unfassbar selbstbewusste Tonfall, diese Sprache eines Menschen, der einfach weiß, was er von allem auf der Welt halten soll, was richtig und was falsch ist, welche Menschen dumm und faul sind, welche gut und fleißig – eine im Grunde authoritäre Sprache. Aber gleichzeitig ist es so harmlos, so ohne große sprachliche Geste. Man hat fast das Gefühl, dass Sarrazin wirklich nicht ganz erfasst, was er da alles sagt, weil er so phantasielos ist, so unfassbar prosaisch und unreflektiert.

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

Diese verstörende Unschuld spürt man am direktesten bei seinem Umgang mit Geschichte. Einer der größten Schocks, den ich beim Lesen hatte, verdanke ich seiner völlig unproblematisierenden, positiven Bezugnahme zur klassischen Eugenik des 19. Jahrhunderts, etwa zu Francis Galton, den er ausgiebig zitiert. Es wäre wohl zu viel verlangt, dass Sarrazin sich aus diesem Anlass auch mit den Kritikern eugenischer Konzepte auseinandersetzt, aber gut, so ist das mit Pamphleten. Was aber wirklich schockiert, ist die Tatsache, dass Sarrazin mit keinem Wort irgendwie die gesellschaftlichen Realitäten beschreibt, in denen eugenisches Gedankengut entstand. Kein Wort über Rassismus. Kein Wort über Klassenwahlrecht, Kolonialkriege, Armenhäuser, Zwangskastrationen, Progrome, Sklaverei oder die nach heutigen Maßstäben unfassbare, alltägliche Brutalität des 'klassischen Liberalismus.' Als hätte man damals einfach solide Familienpolitik propagiert, anstatt eine Art naturalisierten Kastenstaat.

Ich glaube, in Deutschland übersieht man leicht wie sehr die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, wie sehr der Liberalismus, von einer Ablehnung der Demokratie und einem hierarchischem Rassedenken geprägt war, weil der historische Bezugspunkt zur Kontextualisierung rassistischen Gedankenguts eher gleich der Faschismus ist. Dabei ist Sarrazin genau in dieser Welt des reaktionären Liberalismus eigentlich zu Hause. Man könnte zahlreiche Großen des Sozialdarwinismus heranziehen, Spencer, Galton, aber auch lupenreine Liberale wie Tocqueville, und man fände die gleiche Schnittmenge aus liberalem Leistungsdenken und authoritärer Gesellschafskonzeption. Hier nur zum Beispiel der Ökonom Vilfredo Federico Pareto (né Fritz Wilfried, komischerweise) (1848-1923), in einer Sentenz, die auf verblüffende Weise Sarrazin vorweg nimmt: 

„Sollten sich die europäischen Gesellschaften nach dem Ideal modellieren, das die Ethiker schätzen, ginge man so weit, die Selektion zu behindern, systematisch die Schwachen, die Lasterhaften, die Faulen, die Schlechtangepassten, die 'Kleinen und Demütigen', wie unsere Philantropen sie nennen, auf Kosten der Starken, der energischen Menschen zu begünstigen, die die Elite bilden, dann wäre eine neue Eroberung neuer 'Barbaren' keineswegs auszuschließen.“ (zitiert nach Domenico Losurdo, Nietzsche - Der aristokratische Rebell: 696). 

Indem aber Sarrazin es wagt, Galton zu zitieren ohne ihn kritisch historisch einzuordnen (es ist wirklich eine Frechheit), zeigt er an, dass er keinen echten Begriff von Ideologie oder Politik hat, das er voll und ganz dem bürgerlichen cant folgt, welcher ideologische Programmatik hinter reiner, wissenschaftlicher Sachlichkeit verbirgt und damit letztlich unhinterfragbar macht.

Diese historische Unschuld und Einseitigkeit ist Programm. Man könnte sagen, dass sich Sarrazin für Geschichte nur in dem Maß interessiert, als sie in Form einer Erfolgsstory des Westens quasi eine Kosmodizee der heutigen marktwirtschaftlichen Verhältnisse liefert – Gefühl der kulturellen Überlegenheit über den Islam inklusive. Geschichte wird von ihm opportunistisch instrumentalisiert, ironischerweise genau auf die Weise, wie das Rechte vom Schlage Sarrazins eigentlich immer der Linken vorwerfen: Die Linken seien deshalb so von den Schattenseiten der westlichen und deutschen Geschichte bessesen, weil sie das Ziel haben, das Selbstvertrauen und den Stolz unserer Gesellschaften an den Wurzeln anzugreifen. Oder wie Sarrazin es so schön im „Schuldstolz“-Jargon ausdrückt: „Manche mögen dieses Schicksal [der Abschaffung Deutschlands] als gerechte Strafe empfinden für ein Vok, in dem einst SS-Männer gezeugt wurden – nur so lässt sich die zuweilen durchscheinende klammheimliche Freude über die deutsche Bevölkerungsentwicklung erklären.“

Man könnte sagen, jeder fantasiert sich den ideologischen Gegner, den er verdient – und im Falle von Sarrazin heißt das, genauso plump und intellektuell unredlich wie er selbst.

Es beschleicht den Leser ein tiefes Gefühl der Vergeblichkeit angesichts der Unverfrorenheit, mit der Sarrazin die Epoche des Kolonialismus auf ein "in der westlichen Technologie und Marktorganisation liegende[s] Angebot" reduziert – ein freundliches Angebot, das einige Gesellschaften (er nennt Indien) leider aus reiner Trägheit nicht annehmen wollten. Ach, diese dummen, trägen Inder! So unterdrückt, versklavt und ausgehungert, dass sie trotzig das freundliche Angebot der East India Company ausschlagen mussten. Echte 'Modernisierungsverlierer' eben!

Das soll nicht heißen, das Sarrazin sich nicht für Geschichte interessiert, im Gegenteil, er beginnt sein Buch sogar mit einem kurzen amateurhaften Abriss der Weltgeschichte, vom antiken Ägypten bis zur momentanen Rentendiskussion. Die eine Konstante der Weltgeschichte, stellt er fest, besteht darin, dass sie im Grunde genauso funktioniert wie eine idealisierte Marktwirtschaft: der gewinnt, der „fleißiger, gebildeter, unternehmerischer und intelligenter“ ist. Mit anderen Worten: Wer oben ist, hat das auch verdient. Man beginnt zu erkennen, warum es für seine Argumentation so wichtig ist, gerade den Kolonialismus zu verharmlosen: Stellt man sich nämlich erst einmal eine Welt vor, in der wirklich vor allem persönliche Leistung über Erfolg entscheidet, wird es unmöglich, die Berechtigung von Hierarchien irgendwie noch anzuzweifeln. Die Geschichte besteht dann nicht aus Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung, der europäische Reichtum wurde nicht auf dem Rücken von Sklaven und mit Hilfe von Kanonenbooten und überlegener Militär- und Wirtschaftsmacht zusammengerafft, all dies bildet nicht einmal einen Teil der Geschichte. Der Reichtum der Metropole ist nicht die Kehrseite der Armut der Arbeiter, die ihn errichteten, oder der Unterdrückung der Länder, die das Material liefern mussten – im Gegenteil, entscheidend für den Erfolg ist einzig und allein die Eignung, die Leistung, die Fähigkeit. Und in einem ist sich Sarrazin sicher: was diese Eignung angeht, gibt es bei unseren nichteuropäischen Brüdern und Schwestern noch einiges nachzubessern. Denn: - und man kann sich sein zufriedenes, verkniffenes Gesicht vorstellen, wenn er das sagt – eins sei ein für alle mal klar, „es gibt große Unterschiede in der Mentalität der Völker.“

Wenn es also laut Sarrazin schon in der Weltgeschichte erstaunlicherweise keine Ungerechtigkeit gibt, dann, dies ist der entscheidende Punkt, kann man das von der heutigen Gesellschaft erst recht nicht behaupten. Hierarchie ist Gerechtigkeit, denn jeder ist da, wo er seiner Befähigung und seines Fleißes nach auch hingehört. Und wer ganz oben steht, das folgert Sarrazin implizit, der ist eben auch ein besonders guter Mensch. Die Frage aber, ob es gerecht ist, Menschen für ihre Notlage vor allem persönlich verantwortlich zu machen, ob es nicht furchtbar vermessen und grausam ist, am Ende des Spiels, wo die Länder erobert, der Reichtum geerbt, die herausragende Ausbildung genossen und die nicht allen offen stehenden Möglichkeiten genutzt worden sind, daraus auch noch eine Überlegenheit des eigenen Charakters, der eigenen Kultur und der eigenen Gene zu erdichten und auf alle Verlierer der Geschichte und des Wettkampfes doppelt verächtlich herabzublicken - das ist eine Frage, die immer und immer wieder endlos umkämpft werden muss, wahrscheinlich bis entweder die Sklaverei wieder eingeführt wurde oder bis zur Weltrevolution. Es ist eine wichtige, wenn auch etwas monotone Diskussion, aber besonders auf dem Niveau Sarrazins nicht besonders ergiebig. Was nämlich seine Argumentation so langweilig und steril macht, ist die Tatsache, dass er nicht wirklich eine Vorstellung davon hat, dass es auch möglich ist, diese Dinge anders zu sehen: Er vertritt nicht eine ideologische Sache, oder eine Politik, sondern die Realität, also "elementare Lebenszusammenhänge [die er] klipp und klar auf den Punkt bringen" will - und wer da nicht mitmacht, verweigert sich eben der Realität, ist also ein im besten Falle naiver, im schlimmsten Falle heuchlerischer, politisch korrekter Gutmensch. 

Sein Buch ist so effektiv, weil es sich in diesem Modus des auf-der-Wirklichkeit-bestehens jeder Diskussion von Anfang an verschließt. Also lassen wir es. Mit ihm herumzustreiten ist schlicht zu anstrengend, weil er nicht über seine Weltsicht reflektiert. Er erklärt sie nicht einmal gut - dabei ist sie, diese Struktur aus Ideologie, Weltsicht, und politischer Position, die er lästigerweise unter einem Wust belangloser Zahlen begräbt, das eigentlich interessante und auch entscheidende an seinem Buch. Seine Weltsicht ist zwar nicht originell, aber sie ist es, die seinem Buch seine Kraft gegeben hat.

Die düstere Romantik der Gloablisierung

Schon im Titel des Buches drückt sich die düstere, fast tragische Sichtweise Sarrazins aus, der Gedanke nämlich, dass sich hinter der äußerlich noch intakten, wohlhabenden und stabilen Fassade unseres Landes bereits bedrohliche Dekadenzerscheinungen, „Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Inneren der Gesellschaft“ an den Fundamenten nagen. Das ist nicht nur – aus schriftstellerischer, dramatischer Sicht – ungemein suggestiv, sondern traf auch den pessimistischen, bedrohlichen Zeitgeist der vergangenen Jahre, als im Vorfeld der Hartz-Reformen permanent der Ausnahmezustand angesichts des kommenden wirtschaftlichen Niedergangs gepredigt wurde. Es ist wohl auch typisch deutsch. 

Sarrazin gibt zu, dass dieses Niedergangsgefühl durchaus Ausdruck eines Gefühl der „persönliche[n] Entfremdung“ oder „rückwärtsgewandter Nostalgie“ sein könnte, sogar eines existenziell erlebten Gefühls der persönlichen Vergänglichkeit: „Natürlich läuft man leicht Gefahr, die länger werdenden Schatten des eigenen Lebens mit der Verdüsterung der Weltperspektive zu verwechseln.“ Sarrazin scheint sich kaum bewusst zu sein, dass er hier eine sehr alte Strategie der reaktionären Rethorik wiederholt, die Identifikation gesellschaftlicher Veränderungsprozesse mit individuellen Verlust- und Vergänglichkeitserfahrungen. Gesellschaften ändern sich permanent und haben kein Ende – Menschen schon. Dem amerikanischen Theoretiker Corey Robin zu Folge ist dieses Gefühl des Verlustes der vielleicht einzige wirklich universalistische Bestandteil des reaktionären Diskurses, welcher auf eine seltsame Weise in geschichtliche Prozesse übersetzt, was wohl jeder Mensch in sich trägt: eine idealisierte, für immer verlorene Vergangenheit, eine ungewisse Gegenwart, und schließlich eine Zukunft, die ohne Zweifel in Niedergang und schließlichem Verschwinden münden wird. Es ist deshalb wohl kaum ein Zufall, könnte man hinzufügen, dass reaktionäre Erneuerer von Hitler bis Reagan allesamt gerade eine nationale 'Wiedergeburt' und Verjüngung versprachen.

Ganz auf solche rhetorischen Höhen schafft es Sarrazin zwar nicht, aber immerhin beginnt er sein Buch mit einem merkwürdigen geschichsphilosophischer Exkurs, der seine Überzeugungskraft aus diesem Pathos der Vergänglichkeit bezieht: Die Geschichte, argumentiert er, bestehe aus einer Reihe mittelmäßiger Verfallsperioden, welche nur stellenweise unterbrochen werden von „goldenen Zeitaltern“. Es sind dies quasi die 'Verzückungsspitzen' des gesellschaftlichen Daseins, gemessen an den Standards eines konservativen Verwaltungsbeamten: „Zeiten, in denen man sich über mehrere Generationen hinweg sicher aufgehoben fühlen durfte […] [in einer] scheinbar unveränderlichen, wohlgeordneten Welt.“ Mit dem Selbstbewusstsein eines Amateur-Historikers hat er sogar eine Liste parat: Sie beginnt mit der „Blütezeit des alten ägyptischen Reiches,“ beinhaltet die „Blüte des Britischen Empire“ (vermutlich ohne den irischen und indischen Holocaust) genauso wie das zweite deutsche Reich, aber schließlich eben auch die 'alte Bundesrepublik'. Beginn und Ende dieses letzten der „goldenen Zeitalter, von denen immer wieder berichtet wird“ sind bei Sarrazin erstaunlich exakt: eingeleutet wurde es 1948 von der Währungsreform, fürs erste beendet dann 1989 durch den Fall der Mauer. Unsere Aufgabe heute besteht also darin, die Verfallsperiode, in der wir uns seitdem befinden, zu beenden und eine neue Heilsperiode einzuläuten. Sarrazin beweist damit einmal mehr, dass Konservative nicht rückwärtsgewandte Menschen sind, sondern ihren eigenen Futurismus kennen. Gerade weil nichts auf der Welt sicher ist, sondern alles vergänglich, unsicher und fließend, ist es nötig, sich umso fester und härter dem Kampf zu stellen und eine neue, starke Ordnung zu errichten – allein vor dem Menetekel des immer drohenden Niedergangs wird so etwas wie gesellschaftliche Stabilität überhaupt anziehend und gewinnt sogar eine gewisse Romantik. Für Sarrazin, das spürt man, ist diese Romantik – fast Abenteuerlichkeit – des gesellschaftlichen Kampfes ums Fortbestehen, das notwendige Gegenmittel zur Langeweile seines pessimistischen Realismus. „Realismus“, das gesteht er ein, ohne die romantischen „Zugaben von rückwärtsgewandter Nostalgie und nach vorne gerichtetetem Gestaltungswillen ist aber ziemlich platt und banal“. Zum Glück gibt es da auch noch das „Volk“, das uns überleben wird und auf diese Weise „über uns hinausweist.“ Die Gemeinschaft ist es, die uns von den Aporien des Individualismus und unserer Vergänglichkeit erlöst, sie „hebt uns, macht uns stolz, gibt uns Antriebskraft und lässt uns unsere eigenen kleinen Wehwechen und größeren Leiden vergessen.“

Auf beeindruckende Weise verleiht Sarrazin so, bevor er anfängt, von wirtschaftlichen Sachzwängen zu reden, zu Beginn seines Buches dem vertrauten Globalisierungsdiskurs einen geschichtsphilosophischen Glanz. Es ist das gleiche Muster: 'Der Wirtschaftsstandort Deutschland' (als falsche Allgemeinheit, welche allein unserer Existenz Sinn verleiht, bzw. im globalen Konkurrenzkampf unseren Wohlstand garantieren kann) ist in stetiger Gefahr des Niedergangs. Wir sind zwar reich und erfolgreich, aber in genau diesem Reichtum liegt auch eine Bedrohung, denn er führt zu Dekadenz und Weichheit, es droht der „gesellschaftliche Substanzverzehr“. Wollen wir aber im Wettbewerb bestehen, müssen wir immer wachsam sein, immer zu Kampf und zu Opfern bereit – als Lohn winkt uns dann eine glitzernde Welt aus e-commerce, gläsernen Konzernzentralen und der gesicherten Zukunft. 

Genauso wie manche Menschen offenbar eine fast romantische Erfüllung im business-lifestyle erblicken, hat auch diesee kollektive Erzählung des globalen Wettbewerbes seine eigene Poesie, für die zumindest Sarrazin tief empfänglich ist. In dieser Hinsicht steht sein Buch auch völlig im neoliberalen mainstream, der seit Jahren überall auf der Welt schmerzhafte gesellschaftliche Veränderungen vor allem im Hinblick auf die Verteidigung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit fordert – nichts anderes ist schließlich auch Sarrazins Forderung nach grundlegenden Reformen bevor es zu spät ist.

Natürlich ist der globale Wettbewerb eine Realität. Was sich an Sarrazin jedoch beobachten lässt, ist die Tatsache, dass der permanente Zwang, den der Wettbewerb ausübt, keinesfalls beklagt, sondern unter dem Deckmantel eines nüchternen Realismus sogar gefeiert wird, als Mittel nämlich, die Gesellschaft innerlich zu disziplinieren und größere Authorität und Härte besonders ihren 'unproduktiven' Bestandteilen gegenüber, also der Unterschicht, 'Ausländern', und anderen sozialen 'Schädlingen', zu zeigen. Die Botschaft lautet: Um bestehen zu können, darf Deutschland sich keine Sentimentalitäten erlauben, sondern muss Leistung und Disziplin von seiner gesamten Bevölkerung in höherem Maße fordern. Was aber im allgemeinen als schlicht notwendige Maßnahmen wahrgenommen werden, die letztlich allen Menschen zu Gute kommen, wird von Sarrazin als ein natürlicher, begrüßenswerter Zustand dargestellt.

Das gleiche gilt für Sarrazins Bekenntnis zur Ungleichheit: Anstatt sie funktional zu rechtfertigen, wie es die neoliberale Apologetik tut, als eine Art der gesellschaftlichen Organisation, die letztlich allen zu Gute kommt, geht er einen entscheidenden Schritt weiter und begrüßt sie als eine an sich bessere, weil natürliche Ordnung. Aus diesem Grund wirft er auch unserer Gesellschaft folgerichtig eine linksliberale Heuchelei vor, welche zwar auf Disziplinierung, besonders der Unterschicht, und gesellschaftlichen Hierarchien basiert, es aber nicht wagt, sich zu diesen „harten Realitäten“ auch offen zu bekennen. In seiner Rolle als rechter Dissident wirft er deshalb den herrschenden Schichten eine gewollte Blindheit gegenüber gesellschaftlichen Missständen vor, welche das Ergebnis von zu großer Weichheit in der Herrschaftsausübung ist, im zögerlichen Bestehen auf dem eigenen Recht und der eigenen Authorität, einem 'schlechten Gewissen' sozusagen. Es ist das, was altmodischere, faschistische Denker wohl noch die „Dekadenz“ des liberalen bürgerlichen Staates genannt hätten und was Sarrazin auf eine sehr interessante Weise mit einem Mangel des kulturellen Selbstbewusstseins des gesamten Westens angesichts des Traumas des Endes seiner Weltdominanz in Verbindung setzt. Für den Spezialfall Deutschland findet er die lapidare und unfassbar vulgäre Erklärung: „die Deutschen hatten das Nazitrauma.“

Was dann also den Kern von Sarrazins Provokation ausmacht, und was auch seinem Glauben an qualitative genetische Unterschiede zu Grunde liegt, ist sein organisch aus dem neoliberalen Wettbewerbsdenken erwachsendes Bekenntnis zur Notwendigkeit und Rechtfertigung fester gesellschaftlicher Hierarchien und damit eines authoritären Gesellschaftsbildes, welches er allerdings ohne linksliberales Zögern oder „Gutmenschentum“ prinzipiell vertritt, anstatt es nur aus pragmatischen, funktionalen Gründen zu rechtfertigen. In fast allen anderen Aspekten seiner Weltsicht ist Sarrazin keineswegs so originell oder extrem wie man glauben könnte – seine wirtschaftswissenschaftlichen Ansichten sind reines neoklassisches Dogma, seine 'Islamkritik' ist ziemlich Standard, seine Reformvorschläge, das wurde oft angemerkt, sind selbst mit ihrer 'sanften', ermunternden Eugenik gar nicht so weit entfernt vom gesellschaftlich akzeptablen. Immer wieder lobt Sarrazin den schachen workfare Sozialstaat der USA, und auch ideologisch liegen seine Vorbilder, wenn man von den liberalen Sozialdarwinisten des 19. Jahrhunderts mal absieht, eindeutig bei den amerikanischen Neo-Konservativen. Im Grunde ist Deutschland schafft sich ab nur die teutonische Variante von Charles Murrays The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life (1994), sozusagen dem Standardwerk der neoliberalen Eugenik. Wenn man aber die amerikanische Wohlfahrtsdiskussion etwas kennt, kann einen der vergleichsweise zivilisierte Ton des ehemaligen Berliner Senators für Finanzen kaum schocken. Er nennt zwar – mit spürbarem Genuss und immer wieder – arme Menschen „faul“, aber ansonsten kann er es mit der Brutalität eines Lawrence Mead oder dem aparten Rassismus eines Charles Murray nicht aufnehmen. 

Nur das prinzipielle, anstatt funktional argumentierende, Bekenntnis zu Authorität und Hierarchie war eine echte Herausforderung des sozial-liberalen Selbstverständnisses unseres Landes.

Freitag, 15. Mai 2015

Ein Buch: "Lockruf des Westens – Modernes Indien" von Pankaj Mishra

Pankaj Mishra ist ein indischer Schriftsteller, der zwar einen Roman veröffentlichte, mittlerweile aber vor allem als Essayist und Journalist sehr erfolgreich ist. Wie viele andere Autoren aus der post-kolonialen Welt schreibt er vermutlich vor allem für ein westliches Publikum - in den USA zum Beispiel für den New Yorker und regelmäßig auch für die New York Times. Besonders sein Buch über anti-koloniale Intellektuelle, From the Ruins of Empire, aber zeigt, dass er keineswegs einem westlichen Provinzialismus verfallen ist, sondern sich mit den geistigen Traditionen eines in (teilweise feindseliger) Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne entstandenen Denkens auseinandersetzt - weshalb er auch einem homegrown Kritiker der europäischen Moderne wie Kierkegaard so viel abgewinnen kann. Bewundernswert ist auch seine Abrechnung mit dem "homo atlanticus" und vulgären Apologeten des Imperialismus, Nial Ferguson.

Auch die in diesem Band gesammelten Essays über Indien richten sich offensichtlich an ein westliches Publikum - wofür man dankbar sein darf, denn auch als ignoranter Euroäer kann man seinen anschaulichen Erläuterungen sehr gut folgen.

Angesichts seines mittlerweile enorm internationalen Lebens hatte ich bei Pankaj Mishra einen ebenso internationalen Hintergrund erwartet - vielleicht den Besuch einer britischen Universiät, vielleicht Wurzeln in der indischen Diaspora. Tatsächlich jedoch stammt er aus einer verarmten, provinziellen Brahmanenfamilie, die im Zuge der post-kolonialen Landreformen ihren gesamten Besitz verloren hatte. In seinem ersten Essay erinnert sich Mishra daran, wie er als junger Mann auf einer heruntergekommenen Provinzuniversität ohne Aussichten auf eine berufliche Zukunft vor sich hinstudierte. Während die meisten seiner Mitstudenten als einzige Chance nach dem Abschluss die Hoffnung hatten, in die Politik oder den Staatsdienst zu gelangen, verschloss er sich melancholisch sogar dieser Möglichkeit und versuchte stattdessen, sich auf eigene Faust und ohne Aussichten in der europäischen Literatur zu vergraben. Er schildert ein Bild von Indien noch vor den großen neoliberalen Modernisierungshoffnungen seit den 90ern: stagnierend, gezeichnet von brutalen, aber bereits merkwürdig ziel- und substanzlosen politischen Kämpfen zwischen Kommunisten und Nationalisten, und vor allem: weit weg vom Rest der Welt. Anders als zum Beispiel der andere große Brahmane der Weltliteratur, V. S. Naipaul, der seine ganze Existenz darauf setzte, der karibischen Provinz nach London zu entfliehen, schien Mishra keine Sehnsucht nach der Metropole gehabt zu haben. Es muss trotzdem eine freudige Entdeckung gewesen sein, dass die Welt, die dem Heranwachsenden noch als eine traurige, etwas schäbige Provinz erscheinen musste, in Wirklichkeit im Gegensatz zur abgegrasten, stagnierenden Metropole für einen Schriftsteller ein Geschenk war: Genauso wie Naipaul seine besten Bücher über die "dritte Welt" schrieb, beweisen die Essays von Mishra über Indien oder Indonesien, dass eben das, was auch immer gerade auf der Welt passiert, dieser schwer verständliche Prozess, für den man wahrscheinlich in 100 Jahren unsere Zeit in Erinnerung behalten wird, nicht im Westen, sondern in der 'Peripherie' vor sich geht, in so unfassbar dynamischen Übergangsgesellschaften wie Brasilien, Ägypten, Indien und China, in diesen chaotischen, schnell wachsenden Ländern zwischen - vorsicht, Klischee! - Tradition und Moderne.

Oder zumindest zwischen dem, was im Moment als Tradition erfunden wird und dem was gerade dessen Platz einnimmt. Wie komplex und paradox diese Beziehung sein kann, beweist nämlich das Kernstück von Mishras Gesellschaftsbild, seine Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Hindu-Nationalismus und der BJP, die vor einem Jahr erneut die Macht in Indien übernahm. Mishra steht offenbar der wirtschaftlichen Liberalisierung und Öffnung sehr skeptisch gegenüber und stellt heraus, was es eigentlich bedeutet, dass eben die BJP, die Kraft, welche für ein modernes, wirtschaftsliberales high-tech Indien steht, für glitzernde Konzernzentralen und die erlösende Zukunft des Weltmarktes, und die damit vor allem im Westen und auch der wirtschaftlich erfolgreichen indischen Diaspora sehr beliebt ist - dass eben diese Kraft ihre Wurzeln in einem mythischen, faschistischen Nationalismus hat. Dieses Paradox, diese Dialektik aus Progrom und günstigem Investitionsklima, wird von niemandem verstörender verkörpert als von Narendra Modi, der kurz nach Veröffentlichung des Buches Premierminister wurde, in diesem aber noch als ein "junger, aufstrebender Führer der Hindu-Nationalisten" beschrieben wird, der als Gouverneur von Gujarat tatenlos einem Massenmord an den Muslimen seiner Provinz zusah: 2000 Tote, 100.000 (!) mussten in Lager fliehen. Das besondere an Mishras Darstellung ist sein Gespür für die enorme Komplexität der Gründe für das Erstarken religiöser Gewalt, in dem der Massenmord in Guajarat nur eine Episode war - eine Geschichte, die nur scheinbar mit den Wirren der Entkolonisierung, der Teilung des Landes und der Ermordung Ghandis durch einen Hindu-Extremisten beginnt, tatsächlich aber, wie so viele religiöse Konflikte unserer Zeit, man denke nur an Nigeria oder Palästina, in die zynischen divide-et-empera-Politik der Briten zurückreicht, deren Orientalisten das Konzept eines einheitlichen, nationalistischen Hinduismus und dessen ewiger Feindschaft mit den muslimischen Eindringlingen erst erfanden. Besonders faszinierend ist aber auch Mishras Darstellung der facettenreichen und durchaus auch sehr pragmatischen Gründe, aus denen sich Menschen diese quasi-rassistische Ideologie aneigneten - vielleicht versteht Mishra so viel davon, weil er selbst, als verarmter, aufstrebender Brahmane exakt der Bevölkerungsgruppe entstammt, welche die Basis für die BJP bildete, wie auch sein Vater und viele seiner Onkel tatsächlich Mitglieder der Bewegung gewesen sind. 


„Some people call you a mass murderer to your face. [...] Do you have an image problem?“

Letztlich zeichnet Mishra ein sehr melancholisches Bild von Indiens Zukunft: Die säkularen, demokratischen und teilweise sozialistischen Ideale der Nach-Kolonialzeit sind gescheitert und haben längst jede Kraft verloren. An ihre Stelle jedoch ist nur ein harter Nationalismus und eine stetig wachsende Mittelschicht getreten, die unter Modernität vor allem Reichtum und westliche Lebensstandards versteht, aber selbst für die Ideologien des Hindu-Nationalismus immer weniger zu haben ist, gleichzeitig aber auch jegliche Verbindung zum gewaltigen Rest der Bevölkerung verliert, die immer mehr vom wachsenden Wohlstand Indiens ausgeschlossen ist:
„Der öffentliche Diskurs über Armut und soziale Gerechtigkeit; die offizielle Kultur der Genügsamkeit; die – wenn vielleicht auch nur rhetorische – Berufung auf Traditionen der Toleranz und des Dialogs: All das schient heute der Vergangenheit anzugehören, den frühen Jahrzehnten des Idealismus. Zehn Jahre globalisierungsfreundlicher Politik haben eine neue aggressive Mittelschicht entstehen lassen, deren Interessen inzwischen das öffentliche Leben in Indien beherrschen. Diese Schicht wächst – die aktuellen Zahlen bewegen sich zwischen hundertfünzig und zweihunder Millionen. Außerdem gibt es Millionen von reichen Indern, die im Ausland leben. In Amerika bilden sie die wohlhabendste Minderheit. Es waren diese begüterten, den höheren Kasten angehörenden Inder innerhalb und außerhalb Indiens, die den Aufstieg der Hindu-Nationalisten weitgehend finanziert haben. […] Einen Eindruck von diesem modernisierten Hinduismus konnte man 2002 [bei den Progromen] in Gujarat bekommen, als junge Hindus in Benetton-Klamotten stapelweise Digitalkameras und DVD-Spieler in ihren neuen japanischen Autos abtransportierten.“
Die tiefe gesellschaftliche Spaltung im neoliberalen Entwicklungsstaat - Wohlstand und Selbstbewusstsein für die kleine Mittelschicht, Ausschluss und Elend für die große Masse – ist das entscheidende Dilemma der indischen Modernisierung und zunehmend drückt sie sich auch in einem wachsenden kulturellen Graben aus, der sich zwischen wohlhabenden städtischen Enklaven und rückständiger Landbevölkerung auftut. Dies ist das Thema des letzten Essays des Buches, in dem Mishra die faszinierende, durch Kriminalität, Vetternwirtschaft und künstlerische Leere geprägte Welt von Bollywood beschreibt: Da gibt es Stars der Bollywood-Aristokratie, wie Salman Khan, der mit seinem Toyota Land Cruiser fünf auf einem Bordstein schlafende Mensche überfuhr und einen von ihnen tötet, ohne auch nur an Popularität zu verlieren, geschweige denn ernsthaft bestraft zu werden. Sie spielen in Filmen, welche immer mehr in einem Indien stattfinden, dass mehr nach einem kulissenhaften Amerika aussieht als einem echten Land – wenn sie nicht gleich in einem idealisierten, verkitschen New York spielen. Und gleichzeitig die langen Schlangen der hoffnungsvoll vor den Studios wartenden Menschen, die ihr altes Leben auf dem Land hinter sich gelassen haben, um als Bollywood-Star entdeckt zu werden, ohne Möglichkeiten der Rückkehr, eigentlich ohne ein Leben, das sie wegwerfen könnten:
„Ich fragte ihn, wo und wie er in den vergangenen acht Jahren in Bombay gelebt habe. Er sah etwas fahrig aus, vielleicht verwundert wegen des kargen Raums, den zu betreten er sich so lange gewünscht hatte. Er sagte, er lebe wie ein Asket, er rauche und trinke nicht und esse sehr wenig. Das bisschen Geld, das er brauche, stehle er.“
Kein Wunder, dass sich Mishra angesichts dieser Gegenwart melancholischen Erinnerungen an seine Jugend hingibt, als er noch selbst versuchte, der Zukunft zu entgehen, genauso wie die jungen Amerikaner, die auf die Dachterasse seiner Studentenpension kamen, um Opium zu rauchen: „was auch immer ihre Beweggründe waren, diese Amerikaner waren, genau wie ich, auf der Flucht vor der modernen Welt der Arbeit und ihren Leistungszwängen; sie wollten eine andere Welt kennenlernen, älter als ihre eigene, in die sie eines Tages unweigerlich wieder zurück mussten, und das machte sie mir sympathisch.“