Wie war es überhaupt praktisch möglich, den Holocaust zu organisieren? Es ist dies nicht unbedingt eine der bedeutsamsten Fragen, die man sich zu den Verbrechen der Nazis stellen kann, aber ist sie erst einmal da, ist es schwierig, mit ihr zu Recht zu kommen. Adolf Eichmann ist so etwas wie die Symbolgestalt für die beklemmende Effektivität und Rationalität der Bürokratie des Massenmordes geworden, aber selbst dieser Mythos des deutschen Bürokraten, armseliger Karrierist und hingebungsvoller Diener des Völkermords in einem, ist zwar eine Antwort, aber noch keine echte Erklärung. Wie war es möglich, auf der Höhe eines chaotischen Weltkrieges quer durch ein - zum Teil gerade erst frisch besetztes! - Europa genauso knappe wie gewaltige Ströme an Material, Waffen, Soldaten, Zwangsarbeitern zu verschicken - und gleichzeitig Stunde um Stunde Züge voller Totgeweihter Richtung Osten? Wie war es überhaupt möglich, besonders in den neu besetzten Gebieten die gesamte Bevölkerung so schnell zu erfassen und zu sortieren? Woher wusste man überhaupt, welche Menschen Juden waren, besonders im Falle solcher, die seit mehreren Generationen den christlichen Glauben angenommen hatten?
Die Lösung war elektronische Datenverarbeitung. Kaum ein Land der Welt hatte so früh und so umfassend die Chancen der bürokratischen Automatisierung ergriffen wie das dritte Reich - und kaum eines seiner Verbrechen wäre möglich gewesen, ohne die enge Zusammenarbeit mit dem unbestrittenen Marktführer der Lochkartentechnologie, der amerikanischen IBM. In jeder großen deutschen Behörde, in jeder Versicherung, jeder Planstelle und in jedem Konzentrationslager standen die patentierten Hollerith-Maschinen mit dem IBM-Logo - und jeder Aspekt der Planung des Krieges wie des Völkermordes basierte auf modernster Computertechnologie: Die Erfassung und Zählung der Bevölkerungen, die Nachforschung über Abstammung, die Erfassung und Beschlagnahmung des Besitzes - und schließlich auch der Abtransport und die Organisation der (das vergisst man oft) extrem dezentralen Zwangsarbeit inner- und außerhalb der Konzentrationslager. Wie die IBM bis zum Kriegsbeginn alles daran setzte, sich dieses Geschäft nicht entgehen zu lassen und die Kontrolle über seine europäischen Tochtergesellschaften zu bewahren, war eine völlig vergessene, das heißt: erfolgreich vertuschte, Geschichte, bis Edwin Black sie in den 90er Jahren zu Tage brachte. Stärkstes Symbol für die enorm profitable Verstrickung der IBM sind die Nummern, die den Häftlingen von Auschwitz auf den Arm tätowiert wurden - sie bezogen sich auf die Nummer ihrer Lochkarte im IBM-Datenverarbeitungssystem.
IBM war notorisch erbarmungslos gegenüber potentiellen Konkurrenten und hatte sich Anfang der 30er beinahe eine Monopolstellung erkämpft. Selbst für die auf Autarkie bedachten Nazis gab es deshalb keine Alternative zu den Ingenieuren und Maschinene von IBM, so dass sie sich bis zum Kriegseintritt der USA gefallen ließen, sich von einer ausländischen Firma die gesamte Kriegs- und Polizeibürokratie betreiben zu lassen. Was während des Krieges passierte, ist fast noch unglaublicher: Alle europäischen IBM-Gesellschaften wurden von einem Nazi-Treuhänder übernommen, machten aber ansonsten weiter wie bisher - ihre Gewinne wurden geschützt, teilweise zur Sicherheit in Immobilien investiert, aber nach dem Krieg dauerte es nur wenige Monate bis die Zentrale in New York wieder die Kontrolle übernommen hatte und die sich angesammelten Gewinne einstreichen konnte. Die Treuhänder waren so solidarisch mit den Interessen der amerikanischen IBM, dass sie selbst in den Jahren vor Kriegsende ihrer eigenen Regierung kein finanzielles Entgegenkommen anboten. Zum Beispiel in Tschechien:
"[Der Vertreter des Reichswirtschafstministeriums] Fellinger bemühte sich, die Gewinne der tschechischen Tochter auf hohem Niveau zu halten. Er verfügte, dass keinerlei Rabatte gewährt und die Ausgaben eingeschränkt wurden [...] Von 1941 bis 1944 verdoppelten sich allein die Erlöse aus der Lochkartenproduktion der tschechischen Tochter von 2,6 auf 5,3 Millionen Kronen [...] Auf diese Weise wurde die Geschäftstätigkeit im Reichsprotektorat regelmäßig finanziert, ohne dass irgendwelche schriftlichen Anweisungen von IBM New York existierten, und die Arbeitsteilung hinterließ nur eine minimale Papierspur."
Das dritte Reich führt einen totalen Krieg auch gegen Amerika, aber der deutsche Verwalter kümmert sich immer noch um die Gewinne des amerikanischen Investors. Was ist das? Sinn für juristische Korrektheit? Rücksicht auf eine Schlüsselkriegsindustrie? Es wurden zu dieser Zeit tausende Unternehmen einfach enteignet - warum wurden die des Kriegsgegners Amerika geschützt? Ich kann es mir eigentlich nur so erklären, dass die damals in Europa geläufige Hierarchie der Völker eben auch von den Nazis übernommen wurde und man daher eine gewisse Solidarität mit den Angelsachsen als anderes westliches Herrenvolk spürte. Und so wie die besetzten Länder in Westeuropa anders behandelt wurden als die im Osten, wurde auch auf die Interessen der amerikanischen Geschäftsmänner Rücksicht genommen, weil ja schließlich auch die Unterwerfung Amerikas nie Ziel gewesen ist.
In dem genialen "Man in a High Castle" malt sich Phillip K. Dick eine Welt aus, in der die Achsenmächte den Krieg gewonnen haben und die USA von Japan besetzt wurde, sodass die amerikanische Bevölkerung als Menschen zweiter Klasse in einer Art Apartheitsstaat unter ihren neuen asiatischen Herren leben. Das erschien mir immer unglaubwürdig. Schließlich sind auch Deutsche weiß und selbst eine Eroberung Amerikas hätte wohl nicht gereicht, um den weißen Mann von der Spitze der damaligen Welt zu stürzen... Es erinnert mich eher an eine Stelle aus Thomas Pynchons Roman "Die Enden der Parabel," in der ein Oberst Enzian bei der aufgeputschten Fahrt auf dem Motorrad durch die kürzlich befreite und zerstört daliegende deutsche Zone eine Vision einer tieferen Ordnung erscheint:
"Wenn ich nun aber im Begriff bin, hier durch den wahren Text hindurchzufahren..oder wenn ich heute, irgendwo in den Zerstörungen von Hamburg, an ihm vorbeigefahren bin, Aschenstaub einatmend und ihn völlig verfehlend...wenn das, was die I.G.hier gebaut hat, wenn es nur ein Arrangement von Fetischen war,.., ja, dann währen die "alliierten" Maschinen auch alle I.G.-Produkte gewesen, auf dem Umweg über Direktor Krupp und seine englischen Verbindungen- die Bombardierung entsprach genau einem industriellen Konversionsprozeß, jedes Freiwerden von Energie genau in Raum und Zeit plaziert, jede Druckwelle genau vorausgeplant, um präzise das Wrack der heutigen Nacht zu erzeugen, dabei den Text decodierend, dabei den heiligen Text codierend, recodierend, redecodierend.. das bedeutet, daß dieser Krieg niemals auch nur im geringsten politisch gewesen ist,.. im geheimen war der Krieg von den Bedürfnissen der Technologie diktiert... von einer Verschwörung zwischen menschlichen Wesen und technischen Verfahren, von etwas, das auf die Energieexplosion des Krieges angewiesen war...
Die wahren Krisen waren Krisen der Kontingente und Prioritäten, nicht zwischen Firmen.., sondern zwischen den verschiedenen Technologien, Kunststoffchemie, Elektronik, Flugzeugbau..."
"Die Enden der Parabel" erschien 1973, und man kann dem Buch die Intensität der 60er genauso wie der Hochphase des Kalten Krieges noch anhören (plus das Inferno der im Hintergrund fallenden Bomben auf Camodia). Damals wie heute und wie in den 30ern war der beste Kunde der Computer-Industrie das Militär, ob Lochkarten, Raketen oder Internet...
"... and this computer is on the job - around the clock..."
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