(Edit: Es wird vermutlich nie einen zweiten Teil geben. Ich habe das Interesse verloren!)
„It is fairly clear that he likes Jews“ - aus der Rezension des Economist
„It is fairly clear that he likes Jews“ - aus der Rezension des Economist
Als 1985 Günther
Wallraffs Reportage aus dem Gastarbeitermillieu, „Ganz Unten“,
erschien, bildeten sich Schlangen vor den Buchläden. Es war, heute
unvorstellbar, einer der größten Bestseller in der deutschen
Geschichte, allein in den ersten 6 Wochen 1,6 Millionen mal verkauft
– und das im kleinen Westdeutschland. Wenn man also sich vor Augen
führen will, wie der Zeitgeist sich seitdem gewandelt hat, dann muss
man sich nur bitter eingestehen, dass das einzige Buch, dass seitdem
eine solche Wirkung entfaltet haben dürfte, das einzige, das sowohl
in verkauften Exemplaren als auch in politischer Brisanz da mithalten
kann, von Sarrazin geschrieben wurde, dem Anti-Wallraff. Denn
Deutschland schafft sich ab war ein Bestseller, es war
überall, im Spiegel, in jeder Tankstelle zum Verkauf:
Millionen hatten offenbar auf dieses Buch gewartet.
Es ist deshalb ironisch,
dass Sarrazin selbst sich als Opfer einer Art Zensur der etablierten
'Meinungskartelle' stilisieren konnte, und das nicht erst seit seinem
neusten Buch über den „Tugendterror“, welcher Sarrazin zu Folge
den öffentlichen Diskurs in seinen heuchlerischen, linksliberalen
Klauen hält. Die unmittelbare Wirkung von Deutschland schafft
sich ab erklärt sich zum großen
Teil aus dieser Geste des Tabubruchs und des Aussprechens angeblich
opportunistisch totgeschwiegener Realitäten – was Sarrazin zu
sagen hat, ist gefährliche, subversive Wahrheit und bürgerlicher
common sense in einem.
Von Anfang an wurde Sarrazin von großen Medien aufgebaut, von seinem
Verlag aus der Bertelsmann-Gruppe, von der Bild, vom
Spiegel – und
trotzdem wendete sich fast alles, was in Deutschland eine offizielle
Position bekleidete, laut von ihm ab. Millionen kauften seine Bücher,
aber öffentlich wollte kaum jemand aus gerade den Leistungseliten,
an die er sich wendete, mit ihm gesehen werden. Wie passt das
zusammen? Spricht aus ihm das Id
eines verrohten (das
Wort hört man immer wieder) Bürgertums, das zwar längst alle
egalitären Prinzipien abgelegt hat, sich aber nur traut, seine
reaktionären Gefühle in Form eines Medienspektakels zu zelebrieren,
aus Furcht vor dem links-liberalen gesellschaftlichen Gewissen? Lesen
die deutschen Leistungsträger heimlich Sarrazin, in unschuldige
Umschläge gehüllt wie 50 Shades of Grey?
Müssen wir Sarrazin am Ende sogar dankbar sein, dass er das obszöne
Geheimnis des Neoliberalismus ausgesprochen hat – dass nämlich ein
Abbau sozialer Standards im Namen des globalen Wettbewerbs letztlich
ohne Sozialdarwinismus und authoritären Staat nicht zu haben ist?
Um
diese Fragen zu beantworten, bleibt einem kaum etwas übrig, als
Sarrazins langweiliges Buch auch zu lesen – mit der Frage nämlich,
was an diesem Buch so eine Wirkung entfalten konnte, eine Wirkung die
sich vielleicht jetzt erst mit den rechten „Bürgerbewegungen“
echt entfaltet.
Also,
wie ist das Buch so? Das erste, was überrascht, ist der einfache,
unfassbar selbstbewusste Tonfall, diese Sprache eines Menschen, der
einfach weiß, was er von allem auf der Welt halten soll, was richtig
und was falsch ist, welche Menschen dumm und faul sind, welche gut
und fleißig – eine im Grunde authoritäre Sprache. Aber
gleichzeitig ist es so harmlos, so ohne große sprachliche Geste. Man
hat fast das Gefühl, dass Sarrazin wirklich nicht ganz erfasst, was
er da alles sagt, weil er so phantasielos ist, so unfassbar prosaisch
und unreflektiert.
Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
Diese
verstörende Unschuld spürt man am direktesten bei seinem Umgang mit
Geschichte. Einer der größten Schocks, den ich beim Lesen hatte,
verdanke ich seiner völlig unproblematisierenden, positiven
Bezugnahme zur klassischen Eugenik des 19. Jahrhunderts, etwa zu
Francis Galton, den er ausgiebig zitiert. Es wäre wohl zu viel
verlangt, dass Sarrazin sich aus diesem Anlass auch mit den Kritikern
eugenischer Konzepte auseinandersetzt, aber gut, so ist das mit
Pamphleten. Was aber wirklich schockiert, ist die Tatsache, dass
Sarrazin mit keinem Wort irgendwie die gesellschaftlichen Realitäten
beschreibt, in denen eugenisches Gedankengut entstand. Kein Wort über
Rassismus. Kein Wort über Klassenwahlrecht, Kolonialkriege,
Armenhäuser, Zwangskastrationen, Progrome, Sklaverei oder die nach
heutigen Maßstäben unfassbare, alltägliche Brutalität des
'klassischen Liberalismus.' Als hätte man damals einfach solide
Familienpolitik propagiert, anstatt eine Art naturalisierten
Kastenstaat.
Ich
glaube, in Deutschland übersieht man leicht wie sehr die bürgerliche
Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, wie sehr der Liberalismus, von
einer Ablehnung der Demokratie und einem hierarchischem Rassedenken
geprägt war, weil der historische Bezugspunkt zur Kontextualisierung
rassistischen Gedankenguts eher gleich der Faschismus ist. Dabei ist
Sarrazin genau in dieser Welt des reaktionären Liberalismus
eigentlich zu Hause. Man könnte zahlreiche Großen des
Sozialdarwinismus heranziehen, Spencer, Galton, aber auch lupenreine
Liberale wie Tocqueville, und man fände die gleiche Schnittmenge aus
liberalem Leistungsdenken und authoritärer Gesellschafskonzeption. Hier nur zum Beispiel der Ökonom
Vilfredo Federico Pareto (né Fritz Wilfried, komischerweise)
(1848-1923), in einer Sentenz, die auf verblüffende Weise Sarrazin
vorweg nimmt:
„Sollten sich die europäischen Gesellschaften nach dem Ideal modellieren, das die Ethiker schätzen, ginge man so weit, die Selektion zu behindern, systematisch die Schwachen, die Lasterhaften, die Faulen, die Schlechtangepassten, die 'Kleinen und Demütigen', wie unsere Philantropen sie nennen, auf Kosten der Starken, der energischen Menschen zu begünstigen, die die Elite bilden, dann wäre eine neue Eroberung neuer 'Barbaren' keineswegs auszuschließen.“ (zitiert nach Domenico Losurdo, Nietzsche - Der aristokratische Rebell: 696).
Indem
aber Sarrazin es wagt, Galton zu zitieren ohne ihn kritisch
historisch einzuordnen (es ist wirklich eine Frechheit), zeigt er an,
dass er keinen echten Begriff von Ideologie oder Politik hat, das er
voll und ganz dem bürgerlichen cant folgt, welcher
ideologische Programmatik hinter reiner, wissenschaftlicher
Sachlichkeit verbirgt und damit letztlich unhinterfragbar macht.
Diese
historische Unschuld und Einseitigkeit ist Programm. Man könnte
sagen, dass sich Sarrazin für Geschichte nur in dem Maß
interessiert, als sie in Form einer Erfolgsstory des
Westens quasi eine Kosmodizee
der heutigen marktwirtschaftlichen Verhältnisse liefert – Gefühl
der kulturellen Überlegenheit über den Islam inklusive. Geschichte
wird von ihm opportunistisch instrumentalisiert, ironischerweise
genau auf die Weise, wie das Rechte vom Schlage Sarrazins eigentlich
immer der Linken vorwerfen: Die Linken seien deshalb so von den
Schattenseiten der westlichen und deutschen Geschichte bessesen, weil
sie das Ziel haben, das Selbstvertrauen und den Stolz unserer
Gesellschaften an den Wurzeln anzugreifen. Oder wie Sarrazin es so
schön im „Schuldstolz“-Jargon ausdrückt: „Manche mögen
dieses Schicksal [der Abschaffung Deutschlands] als gerechte Strafe
empfinden für ein Vok, in dem einst SS-Männer gezeugt wurden –
nur so lässt sich die zuweilen durchscheinende klammheimliche Freude
über die deutsche Bevölkerungsentwicklung erklären.“
Man könnte sagen, jeder fantasiert sich den ideologischen Gegner, den er verdient – und im Falle von Sarrazin heißt das, genauso plump und intellektuell unredlich wie er selbst.
Es
beschleicht den Leser ein tiefes Gefühl der Vergeblichkeit
angesichts der Unverfrorenheit, mit der Sarrazin die Epoche des
Kolonialismus auf ein "in der westlichen Technologie und
Marktorganisation liegende[s] Angebot" reduziert – ein
freundliches Angebot, das einige Gesellschaften (er nennt Indien)
leider aus reiner Trägheit nicht annehmen wollten. Ach, diese
dummen, trägen Inder! So unterdrückt, versklavt und ausgehungert,
dass sie trotzig das freundliche Angebot der East India Company
ausschlagen mussten. Echte 'Modernisierungsverlierer' eben!
Das soll nicht heißen,
das Sarrazin sich nicht für Geschichte interessiert, im Gegenteil,
er beginnt sein Buch sogar mit einem kurzen amateurhaften Abriss der
Weltgeschichte, vom antiken Ägypten bis zur momentanen
Rentendiskussion. Die eine Konstante der Weltgeschichte, stellt er
fest, besteht darin, dass sie im Grunde genauso funktioniert wie eine
idealisierte Marktwirtschaft: der gewinnt, der „fleißiger,
gebildeter, unternehmerischer und intelligenter“ ist. Mit anderen
Worten: Wer oben ist, hat das auch verdient. Man beginnt zu erkennen,
warum es für seine Argumentation so wichtig ist, gerade den
Kolonialismus zu verharmlosen: Stellt man sich nämlich erst einmal
eine Welt vor, in der wirklich vor allem persönliche Leistung über
Erfolg entscheidet, wird es unmöglich, die Berechtigung von
Hierarchien irgendwie noch anzuzweifeln. Die Geschichte besteht dann
nicht aus Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung, der europäische
Reichtum wurde nicht auf dem Rücken von Sklaven und mit Hilfe von
Kanonenbooten und überlegener Militär- und Wirtschaftsmacht
zusammengerafft, all dies bildet nicht einmal einen Teil der
Geschichte. Der Reichtum der Metropole ist nicht die Kehrseite der
Armut der Arbeiter, die ihn errichteten, oder der Unterdrückung der
Länder, die das Material liefern mussten – im Gegenteil,
entscheidend für den Erfolg ist einzig und allein die Eignung, die
Leistung, die Fähigkeit. Und in einem ist sich Sarrazin sicher: was
diese Eignung angeht, gibt es bei unseren nichteuropäischen Brüdern
und Schwestern noch einiges nachzubessern. Denn: - und man kann sich
sein zufriedenes, verkniffenes Gesicht vorstellen, wenn er das sagt –
eins sei ein für alle mal klar, „es gibt große Unterschiede in
der Mentalität der Völker.“
Wenn es also laut
Sarrazin schon in der Weltgeschichte erstaunlicherweise keine
Ungerechtigkeit gibt, dann, dies ist der entscheidende Punkt, kann
man das von der heutigen Gesellschaft erst recht nicht behaupten.
Hierarchie ist Gerechtigkeit, denn jeder ist da, wo er seiner
Befähigung und seines Fleißes nach auch hingehört. Und wer ganz
oben steht, das folgert Sarrazin implizit, der ist eben auch ein
besonders guter Mensch. Die Frage aber, ob es gerecht ist, Menschen
für ihre Notlage vor allem persönlich verantwortlich zu machen, ob
es nicht furchtbar vermessen und grausam ist, am Ende des Spiels, wo
die Länder erobert, der Reichtum geerbt, die herausragende
Ausbildung genossen und die nicht allen offen stehenden Möglichkeiten
genutzt worden sind, daraus auch noch eine Überlegenheit des eigenen
Charakters, der eigenen Kultur und der eigenen Gene zu erdichten und
auf alle Verlierer der Geschichte und des Wettkampfes doppelt
verächtlich herabzublicken - das ist eine Frage, die immer und immer
wieder endlos umkämpft werden muss, wahrscheinlich bis entweder die
Sklaverei wieder eingeführt wurde oder bis zur Weltrevolution. Es
ist eine wichtige, wenn auch etwas monotone Diskussion, aber
besonders auf dem Niveau Sarrazins nicht besonders ergiebig. Was
nämlich seine Argumentation so langweilig und steril macht, ist die
Tatsache, dass er nicht wirklich eine Vorstellung davon hat, dass es
auch möglich ist, diese Dinge anders zu sehen: Er vertritt nicht
eine ideologische Sache, oder eine Politik, sondern die Realität,
also "elementare Lebenszusammenhänge [die er] klipp und klar
auf den Punkt bringen" will - und wer da nicht mitmacht,
verweigert sich eben der Realität, ist also ein im besten Falle
naiver, im schlimmsten Falle heuchlerischer, politisch korrekter
Gutmensch.
Sein
Buch ist so effektiv, weil es sich in diesem Modus des
auf-der-Wirklichkeit-bestehens jeder Diskussion von Anfang an
verschließt. Also lassen wir es. Mit ihm herumzustreiten ist
schlicht zu anstrengend, weil er nicht über seine Weltsicht
reflektiert. Er erklärt sie nicht einmal gut - dabei ist sie, diese
Struktur aus Ideologie, Weltsicht, und politischer Position, die er
lästigerweise unter einem Wust belangloser Zahlen begräbt, das
eigentlich interessante und auch entscheidende an seinem Buch. Seine
Weltsicht ist zwar nicht originell, aber sie ist es, die seinem Buch
seine Kraft gegeben hat.
Die
düstere Romantik der Gloablisierung
Schon
im Titel des Buches drückt sich die düstere, fast tragische
Sichtweise Sarrazins aus, der Gedanke nämlich, dass sich hinter der
äußerlich noch intakten, wohlhabenden und stabilen Fassade unseres
Landes bereits bedrohliche Dekadenzerscheinungen, „Gefährdungen
und Fäulnisprozesse im Inneren der Gesellschaft“ an den
Fundamenten nagen. Das ist nicht nur – aus schriftstellerischer,
dramatischer Sicht – ungemein suggestiv, sondern traf auch den
pessimistischen, bedrohlichen Zeitgeist der vergangenen Jahre, als im
Vorfeld der Hartz-Reformen permanent der Ausnahmezustand angesichts
des kommenden wirtschaftlichen Niedergangs gepredigt wurde. Es ist
wohl auch typisch deutsch.
Sarrazin
gibt zu, dass dieses Niedergangsgefühl durchaus Ausdruck eines
Gefühl der „persönliche[n] Entfremdung“ oder
„rückwärtsgewandter Nostalgie“ sein könnte, sogar eines
existenziell erlebten Gefühls der persönlichen Vergänglichkeit:
„Natürlich läuft man leicht Gefahr, die länger werdenden
Schatten des eigenen Lebens mit der Verdüsterung der Weltperspektive
zu verwechseln.“ Sarrazin scheint sich kaum bewusst zu sein, dass
er hier eine sehr alte Strategie der reaktionären Rethorik
wiederholt, die Identifikation gesellschaftlicher
Veränderungsprozesse mit individuellen Verlust- und
Vergänglichkeitserfahrungen. Gesellschaften ändern sich permanent
und haben kein Ende – Menschen schon. Dem amerikanischen
Theoretiker Corey Robin zu Folge ist dieses Gefühl des Verlustes der
vielleicht einzige wirklich universalistische Bestandteil des
reaktionären Diskurses, welcher auf eine seltsame Weise in
geschichtliche Prozesse übersetzt, was wohl jeder Mensch in sich
trägt: eine idealisierte, für immer verlorene Vergangenheit, eine
ungewisse Gegenwart, und schließlich eine Zukunft, die ohne Zweifel
in Niedergang und schließlichem Verschwinden münden wird. Es ist
deshalb wohl kaum ein Zufall, könnte man hinzufügen, dass
reaktionäre Erneuerer von Hitler bis Reagan allesamt gerade eine
nationale 'Wiedergeburt' und Verjüngung versprachen.
Ganz
auf solche rhetorischen Höhen schafft es Sarrazin zwar nicht, aber
immerhin beginnt er sein Buch mit einem merkwürdigen
geschichsphilosophischer Exkurs, der seine Überzeugungskraft aus
diesem Pathos der Vergänglichkeit bezieht: Die Geschichte,
argumentiert er, bestehe aus einer Reihe mittelmäßiger
Verfallsperioden, welche nur stellenweise unterbrochen werden von
„goldenen Zeitaltern“. Es sind dies quasi die
'Verzückungsspitzen' des gesellschaftlichen Daseins, gemessen an den
Standards eines konservativen Verwaltungsbeamten: „Zeiten, in denen
man sich über mehrere Generationen hinweg sicher aufgehoben fühlen
durfte […] [in einer] scheinbar unveränderlichen, wohlgeordneten
Welt.“ Mit dem Selbstbewusstsein eines Amateur-Historikers hat er
sogar eine Liste parat: Sie beginnt mit der „Blütezeit des alten
ägyptischen Reiches,“ beinhaltet die „Blüte des Britischen
Empire“ (vermutlich ohne den irischen und indischen Holocaust)
genauso wie das zweite deutsche Reich, aber schließlich eben auch
die 'alte Bundesrepublik'. Beginn und Ende dieses letzten der
„goldenen Zeitalter, von denen immer wieder berichtet wird“ sind
bei Sarrazin erstaunlich exakt: eingeleutet wurde es 1948 von der
Währungsreform, fürs erste beendet dann 1989 durch den Fall der
Mauer. Unsere Aufgabe heute besteht also darin, die Verfallsperiode,
in der wir uns seitdem befinden, zu beenden und eine neue
Heilsperiode einzuläuten. Sarrazin beweist damit einmal mehr, dass
Konservative nicht rückwärtsgewandte Menschen sind, sondern ihren
eigenen Futurismus kennen. Gerade weil nichts auf der Welt sicher
ist, sondern alles vergänglich, unsicher und fließend, ist es
nötig, sich umso fester und härter dem Kampf zu stellen und eine
neue, starke Ordnung zu errichten – allein vor dem Menetekel des
immer drohenden Niedergangs wird so etwas wie gesellschaftliche
Stabilität überhaupt anziehend und gewinnt sogar eine gewisse
Romantik. Für Sarrazin, das spürt man, ist diese Romantik – fast
Abenteuerlichkeit – des gesellschaftlichen Kampfes ums
Fortbestehen, das notwendige Gegenmittel zur Langeweile seines
pessimistischen Realismus. „Realismus“, das gesteht er ein, ohne
die romantischen „Zugaben von rückwärtsgewandter Nostalgie und
nach vorne gerichtetetem Gestaltungswillen ist aber ziemlich platt
und banal“. Zum Glück gibt es da auch noch das „Volk“, das uns
überleben wird und auf diese Weise „über uns hinausweist.“ Die
Gemeinschaft ist es, die uns von den Aporien des Individualismus und
unserer Vergänglichkeit erlöst, sie „hebt uns, macht uns stolz,
gibt uns Antriebskraft und lässt uns unsere eigenen kleinen
Wehwechen und größeren Leiden vergessen.“
Auf
beeindruckende Weise verleiht Sarrazin so, bevor er anfängt, von
wirtschaftlichen Sachzwängen zu reden, zu Beginn seines Buches dem
vertrauten Globalisierungsdiskurs einen geschichtsphilosophischen
Glanz. Es ist das gleiche Muster: 'Der Wirtschaftsstandort
Deutschland' (als falsche Allgemeinheit, welche allein unserer
Existenz Sinn verleiht, bzw. im globalen Konkurrenzkampf unseren
Wohlstand garantieren kann) ist in stetiger Gefahr des Niedergangs.
Wir sind zwar reich und erfolgreich, aber in genau diesem Reichtum
liegt auch eine Bedrohung, denn er führt zu Dekadenz und Weichheit,
es droht der „gesellschaftliche Substanzverzehr“. Wollen wir aber
im Wettbewerb bestehen, müssen wir immer wachsam sein, immer zu
Kampf und zu Opfern bereit – als Lohn winkt uns dann eine
glitzernde Welt aus e-commerce, gläsernen Konzernzentralen und der
gesicherten Zukunft.
Genauso
wie manche Menschen offenbar eine fast romantische Erfüllung im
business-lifestyle erblicken, hat auch diesee
kollektive Erzählung des globalen Wettbewerbes seine eigene Poesie,
für die zumindest Sarrazin tief empfänglich ist. In dieser Hinsicht
steht sein Buch auch völlig im neoliberalen mainstream, der seit
Jahren überall auf der Welt schmerzhafte gesellschaftliche
Veränderungen vor allem im Hinblick auf die Verteidigung
wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit fordert – nichts anderes ist
schließlich auch Sarrazins Forderung nach grundlegenden Reformen
bevor es zu spät ist.
Natürlich
ist der globale Wettbewerb eine Realität. Was sich an Sarrazin
jedoch beobachten lässt, ist die Tatsache, dass der permanente
Zwang, den der Wettbewerb ausübt, keinesfalls beklagt, sondern unter
dem Deckmantel eines nüchternen Realismus sogar gefeiert wird, als
Mittel nämlich, die Gesellschaft innerlich zu disziplinieren und
größere Authorität und Härte besonders ihren 'unproduktiven'
Bestandteilen gegenüber, also der Unterschicht, 'Ausländern', und
anderen sozialen 'Schädlingen', zu zeigen. Die Botschaft lautet: Um
bestehen zu können, darf Deutschland sich keine Sentimentalitäten
erlauben, sondern muss Leistung und Disziplin von seiner gesamten
Bevölkerung in höherem Maße fordern. Was aber im allgemeinen als
schlicht notwendige Maßnahmen wahrgenommen werden, die letztlich
allen Menschen zu Gute kommen, wird von Sarrazin als ein natürlicher,
begrüßenswerter Zustand dargestellt.
Das
gleiche gilt für Sarrazins Bekenntnis zur Ungleichheit: Anstatt sie
funktional zu rechtfertigen, wie es die neoliberale Apologetik tut,
als eine Art der gesellschaftlichen Organisation, die letztlich allen
zu Gute kommt, geht er einen entscheidenden Schritt weiter und
begrüßt sie als eine an sich bessere, weil natürliche Ordnung. Aus
diesem Grund wirft er auch unserer Gesellschaft folgerichtig eine
linksliberale Heuchelei vor, welche zwar auf Disziplinierung,
besonders der Unterschicht, und gesellschaftlichen Hierarchien
basiert, es aber nicht wagt, sich zu diesen „harten Realitäten“
auch offen zu bekennen. In seiner Rolle als rechter Dissident wirft
er deshalb den herrschenden Schichten eine gewollte Blindheit
gegenüber gesellschaftlichen Missständen vor, welche das Ergebnis
von zu großer Weichheit in der Herrschaftsausübung ist, im
zögerlichen Bestehen auf dem eigenen Recht und der eigenen
Authorität, einem 'schlechten Gewissen' sozusagen. Es ist das, was
altmodischere, faschistische Denker wohl noch die „Dekadenz“ des
liberalen bürgerlichen Staates genannt hätten und was Sarrazin auf
eine sehr interessante Weise mit einem Mangel des kulturellen
Selbstbewusstseins des gesamten Westens angesichts des Traumas des
Endes seiner Weltdominanz in Verbindung setzt. Für den Spezialfall
Deutschland findet er die lapidare und unfassbar vulgäre Erklärung:
„die Deutschen hatten das Nazitrauma.“
Was
dann also den Kern von Sarrazins Provokation ausmacht, und was auch
seinem Glauben an qualitative genetische Unterschiede zu Grunde
liegt, ist sein organisch aus dem neoliberalen Wettbewerbsdenken
erwachsendes Bekenntnis zur Notwendigkeit und Rechtfertigung
fester gesellschaftlicher Hierarchien und damit eines authoritären
Gesellschaftsbildes, welches er allerdings ohne linksliberales Zögern
oder „Gutmenschentum“ prinzipiell vertritt, anstatt
es nur aus pragmatischen, funktionalen Gründen zu rechtfertigen. In
fast allen anderen Aspekten seiner Weltsicht ist Sarrazin keineswegs
so originell oder extrem wie man glauben könnte – seine
wirtschaftswissenschaftlichen Ansichten sind reines neoklassisches
Dogma, seine 'Islamkritik' ist ziemlich Standard, seine
Reformvorschläge, das wurde oft angemerkt, sind selbst mit ihrer
'sanften', ermunternden Eugenik gar nicht so weit entfernt vom
gesellschaftlich akzeptablen. Immer wieder lobt Sarrazin den schachen
workfare Sozialstaat der USA, und auch ideologisch liegen
seine Vorbilder, wenn man von den liberalen Sozialdarwinisten des 19.
Jahrhunderts mal absieht, eindeutig bei den amerikanischen
Neo-Konservativen. Im Grunde ist Deutschland schafft sich ab
nur die teutonische Variante von Charles Murrays The Bell Curve:
Intelligence and Class Structure in American Life (1994),
sozusagen dem Standardwerk der neoliberalen Eugenik. Wenn man aber
die amerikanische Wohlfahrtsdiskussion etwas kennt, kann einen der
vergleichsweise zivilisierte Ton des ehemaligen Berliner Senators für
Finanzen kaum schocken. Er nennt zwar – mit spürbarem Genuss und
immer wieder – arme Menschen „faul“, aber ansonsten kann er es
mit der Brutalität eines Lawrence Mead oder dem aparten Rassismus
eines Charles Murray nicht aufnehmen.
Nur
das prinzipielle, anstatt funktional argumentierende, Bekenntnis zu Authorität und Hierarchie war eine
echte Herausforderung des sozial-liberalen Selbstverständnisses
unseres Landes.
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